Die Quantenphysik beamt die Vorstellungskraft der Menschen in unendliche Weiten. Sie eröffnet eine Mikroperspektive in Dimensionen, in der die Materie sich aufl öst – die Domäne mathematischer Höchstleistungen und ein Eldorado für spirituelle Denker, die von hier aus Brücken zu spirituellen Sphären schlagen. Andere Forschungsergebnisse geben dem Menschen dafür umso mehr Bodenhaftung. Durchleuchtet von verschiedenen Disziplinen, verwandelt sich der Homo Sapiens in eine Biomaschine, ausgestattet mit komplexem Programm. Aber das entzieht sich weitgehend seiner Kontrolle. Soziologisch determiniert, biochemisch fixiert, gehirntechnisch lokalisiert bleibt ihm nur ein kleiner Rest, um kreativ sein Leben zu gestalten. Der entscheidende? Gespräch mit einem interdisziplinären Forscher über menschliches Vorstellungsvermögen, die Macht der Prägung und die Freiheit des Willens.

PB: Die meisten von uns haben als Schulwissen über das Innenleben der Elemente noch das Bohrsche Atommodell abgespeichert: Elektronen, die um einen festen Kern kreisen. Das erschien irgendwie noch greifbar, ist aber nur eine Vorstufe. Die Quantenphysik dringt noch viel tiefer in den Mikrokosmos vor. Wie kann man sich diese Größenverhältnisse, beispielsweise in einem Bild gedacht, noch zugänglich machen?

Ewald: Als Annäherung ist es brauchbar, wenn man von dem Atommodell ausgeht, das in vergröbernder Vorstellung wie ein Planetensystem aufgebaut ist. Aber nehme ich diese Planeten bzw. Elektronen oder die Sonne, also den Kern, immer weiter unter die Lupe, verschwimmt das Bild plötzlich. Das Atommodell ist nicht falsch, sondern es ist noch zu grob, um die Feinstruktur der Materie zu erklären. Die Quantenphysik reicht in andere Größenbereiche hinein, in Miniaturbereiche, denen gegenüber sich die Atome wie Planetensysteme gegenüber diesem Zimmer verhalten.

PB: Als allerkleinstes Teilchen wurde das so genannte Partikel entdeckt, das in sich nochmals solche Größendimensionen tragen soll. Löst sich die Materie auf, je genauer man sie betrachtet?

Ewald: Wenn man immer tiefer in ein Verständnis der Materie eindringt, muss man letztlich auch die Teilchenvorstellung aufgeben. „Teilchen“ ist nur ein Begriff aus unserer Sprache, um schon reichlich komplizierte Strukturen zusammenzufassen. Aber diese Teilchen sind nicht – wie man sie sich gerne vorstellt – banale Kügelchen, die man nicht mehr teilen kann und die selbst keine Eigenschaften haben. Sondern was wir Teilchen nennen, ist schon ein sehr schwer zu beschreibendes Schwingungsgebilde in einem energieerfüllten Raum.

PB: Können diese Partikel noch lokalisiert werden?

Ewald: Schon das Elektron kann man nicht mehr richtig lokalisieren. Wie die Physiker sagen: Es ist über seine Bahn verschmiert. Und selbst von dieser Bahn kann man nicht mehr genau sprechen – ohne sehr zu vergröbern. Wenn man das weitertreibt, kommt man an die Grenzen unserer Vorstellungskraft überhaupt. Wobei interessanterweise die Mathematik immer noch weiter vorstoßen kann. Sie fasst gut in ein System, was unsere Vorstellung nicht mehr zu fassen vermag.

PB: Spiegelt sich das, was wir unter mathematischer Logik verstehen, denn auch tatsächlich in den bisher erforschten Naturgesetzen?

Ewald: Ja. Die logische Deduktion, also angewandte Logik, schlägt sich in den mathematischen Formeln in der Naturwissenschaft nieder. Und es ist eines der größten Rätsel in der Naturwissenschaft, dass dasjenige, was man auf dem Weg der logischen Ableitung fi ndet, in den Naturprozessen so oft seine Entsprechung hat. Hier besteht eine Übereinstimmung in den inneren Abläufen, als ob die Natur selbst eine Logik in sich hätte. Es ist einfach ein Wunder. Die Naturwissenschaftler können nur darüber staunen, wissen es aber nicht zu begründen.

PB: Wenn Materie laut Quantenphysik nur eine von vielen Realitäten ist, was sehen, fühlen, tasten wir dann ringsum?

Ewald: Die Schwierigkeit liegt darin, dass unser Betasten mit den Händen, unser Sehen mit den Augen, unser Hören schon auf materiellen Prozessen beruht, das heißt eigentlich schon die Grobstruktur, die großen Gebilde des Materiellen benutzt. Um hinter dieses Grobe zu kommen, muss man sein Denken erweitern, nicht nur die Messinstrumente. Ein bisschen kann man verstehen, wenn man eine glatt polierte Oberfläche unter einem Mikroskop betrachtet und die Vergrößerung immer stärker einstellt. Dann wird aus dieser spiegelglatten Oberfläche plötzlich ein völlig unglattes Gebilde, ein Gebirge. Wenn ich dann noch weiter vergrößere, merke ich, dass da Atome schwingen. In dem, was ich ursprünglich als glatte Fläche oder Wand betrachtet habe, herrscht also ein chaotisches Spiel. Scheinbar. Und die Quantenphysik dringt noch tiefer vor. Und dabei müssen wir noch mehr Vorstellungen aufgeben als die einer glatten Oberfläche.

PB: Welche beispielsweise? Dass es eigentlich gar keine Materie gibt?

Ewald: Das Materielle ist mehr das, was man eigentlich Schwingung im Raum selbst nennen muss. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir uns normalerweise schon Materie denken, wenn wir Schwingung sagen. Sprich, wir stellen uns vor, wie die Luft oder das Wasser schwingen. Während hier umgekehrt die Materie erst damit erklärt werden soll, dass sie schwingt. Aber dann stellt sich die Frage, was da schwingt? Da sind die Physiker in Verlegenheit. Das können sie nicht beantworten. Man könnte höchstens sagen, der Raum hat die Fähigkeit zu schwingen.

PB: Dann ist er aber auch nicht vor allem leer, bzw. dann ist das Nichts auch nicht die größte, sich ausbreitende Sphäre, wie immer wieder postuliert wird?

Ewald: Der Raum ist nicht leer, sondern er ist voller Energie bzw. ein Feld, in dem Schwingungen möglich sind, und zwar sehr regelmäßig sich wiederholende Schwingungen. Sonst gäbe es gar nicht Begriffe wie Lichtteilchen, Elektron oder Positron. Das beruht auf der unglaublichen Regelmäßigkeit, auf die man in diesem scheinbaren Chaos stößt und die kaum noch zu verstehen ist, wenn man experimentell in die tiefen Bereiche des Mikroskopischen vordringt.

PB: Heißt das, im Chaos herrscht auch Ordnung?

Ewald: Ja, diese merkwürdige Verbindung aus Ordnung und Chaos ist eines der größten Wunder in der Natur.

PB: Und wirft die neue alte Frage auf: Woher kommt, wer schafft die Ordnung im Chaos?

Ewald: Wissenschaftlich gesehen, muss man das letztlich offen lassen. Vieles von der Ordnung im Chaos ist durch die Prinzipien der Biologie, der Psychologie, unseres Weltverständnisses insgesamt erklärbar – auch des wissenschaftlichen, aber letztlich ist es ein offenes Problem, was die Welt zusammenhält und was ihr eine Richtung gibt.

PB: Die ins Immaterielle reichende Quantenphysik fi ndet auch viel Nachhall, wenn es um die spirituelle Seite des Menschen geht. Auf Basis der These, dass alles aus den gleichen Partikeln geformt ist, werden spirituelle Themen wie Telepathie neu erforscht. Was denken Sie über die Möglichkeit dieses Phänomens?

Ewald: Telepathie, Hellsehen und Psychokinese müssen nicht unbedingt als spirituell angesehen werden; sie können – mindestens teilweise – Naturphänomene darstellen, die auch quantenphysikalisch nicht voll erfassbar sind. Zwar gilt ihre Existenz unter Naturwissenschaftlern als strittig, sie werden aber merkwürdigerweise praktisch genutzt. Beispielsweise hat die CIA zur Zeit des Kalten Krieges Millionen in die Einübung und Praktizierung von Hellsehen zu Spionagezwecken investiert, mit mäßigem Erfolg. Gott sei Dank; man hätte sonst ein Instrument gefunden, um so ziemlich alles auszuspionieren. Immerhin wurde das erste sowjetische Atom- U-Boot während seines Baus hellseherisch gesichtet – das Pentagon glaubte allerdings dem ungeheuerlichen Bericht nicht, bis das U-Boot vom Stapel lief und sich alles bestätigte. Paranormale Phänomene sind generell schwer systematisch zu fassen.

PB: Zu dem spirituellen Gedankengut rund um die Quantenphysik als „Physik der Möglichkeiten“ zählt auch: Das Feinstoffl iche, der Ursprung des Lebens sei entscheidend. Darum sei der Mensch im Grunde ein spirituelles Wesen und habe die damit verbundenen Möglichkeiten, z. B. die Kraft der Gedanken, längst nicht ausgeschöpft. Was denken Sie über solche Brückenschläge?

Ewald: Das „Feinstoffliche“ ist ein esoterischer Begriff und liegt der Quantenphysik fern. Ursprung des Lebens und Spiritualität des Menschen können ebenfalls nicht quantenphysikalisch erklärt werden. Aber quantenphysikalisches Denken öffnet einen Horizont, der über Physik hinausweist. Man kann damit rechnen, dass in absehbarer Zeit die – noch immer auf klassischer Physik basierende – Biologie ihre Grundlagen im Licht der Quantenphysik neu bedenken muss.

PB: Was heißt das insbesondere für Hirnbiologie und Neuroforschung? Viele Prozesse, die in den 100 Mrd. Nervenzellen des Gehirns ablaufen, legen, wie Sie schreiben, auch noch die Einbeziehung chaostheoretischer Methoden, insbesondere die Verwendung so genannter seltsamer oder chaotischer Attraktoren nahe. Was bedeutet das und wie hängt das mit Quantenphysik zusammen?

Ewald: Das fing so an: Ein Wetterforscher – Edward Lorenz – entwickelte unter vereinfachten Bedingungen eine mathematische Verlaufskurve für die Wetterentwicklung und stellte überrascht fest, dass die Kurve im zeitlichen Verlauf zwischen zwei Wetterzuständen hin und her pendelte. Eine Wettervorhersage war demnach auch theoretisch nicht möglich, von der Zahl der Messdaten ganz abgesehen. Ähnliche Verlaufskurven gibt es bei vielen Naturprozessen, insbesondere Hirnvorgängen. Streben sie mehreren oder gar unendlich vielen Zielpunkten zu, so nennt man die Gesamtheit dieser „Anziehungspunkte“ (Attraktoren) einen chaotischen Attraktor. Ein winzig kleiner Anstoß kann entscheiden, welcher Zustand – z. B. welches Wetter – wirklich eintritt. In der Hirnbiologie stößt man mit der hohen Empfindlichkeit gegenüber Einflüssen in Quantenbereiche vor – ein noch kaum erforschtes, wegen der großen Zahl chaotischer Attraktoren aber hoch relevantes Phänomen. Möglicherweise gibt es hier auch einen Ansatzpunkt für Einflüsse, die nicht einmal quantenphysikalisch fassbar sind.

PB: Trotz seines kosmischen Innenlebens soll das Gehirn nach der Kindheit vorrangig auf Musterbestätigung aus sein. Wie kreativ, wie veränderungsfähig ist es?

Ewald: In der Psychologie hat man mittlerweile mit lange herrschenden Vorstellungen gebrochen. Früher nahm man an, dass die Bahnungen im Gehirn, sozusagen die Art der Bahn, bereits in der Kindheit festgelegt werden und sich bei älteren Menschen nicht mehr verändern würden. In den letzten Jahren hat man herausgefunden, dass diese Annahme schlicht nicht stimmt, stattdessen verändert der Mensch die Bahnungen in seinem Gehirn lebenslang. Das bedeutet zudem, dass er immer wieder neue Prägungen erlebt, wenn auch weniger auffällig und intensiv als bei Kindern. Hier zeigt sich die Offenheit und Möglichkeit, in Neues vorzudringen. Das gehört zum Interessantesten und Schönsten beim Menschen. Ich bin ja nicht mehr sehr jung, aber ich lerne heute noch gerne Gedichte auswendig und finde das ein sehr schönes Erlebnis.

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Quelle: promobizz.de

Die großen Fortschritte der Naturwissenschaft schlagen sich nicht nur in technischen Errungenschaften nieder, sondern in zunehmendem Umfang auf unser Welt- und Menschenbild, häufig in Form von Angriffen auf herkömmliche religiöse oder kulturell geprägte Denktraditionen. Dabei ist in den letzten Jahren eine tragende Säule sowohl religiöser wie humanistisch-liberaler Philosophie unter Beschuss geraten, nämlich die menschliche Willensfreiheit, die Möglichkeit des Menschen, ureigene Entscheidungen zu treffen, die nicht allein von Instinkt oder biologischen Zwängen verursacht sind.

Nun ist es keineswegs so, dass Freiheit des Willens bisher als unangefochtene Eigenschaft des Menschen galt und neuerdings durch Hirnbiologen in Frage gestellt wird. Das Problem hat viele Facetten und will behutsam angegangen werden. Von den Anfängen der Geistesgeschichte an haben sich Menschen als von Schicksalsmächten getrieben verstanden, Schamanen oder Priester als Vollstrecker göttlichen Willens. Noch in der altgriechischen Stoa, einer relativ rational orientierten Lehre, sagte Epiktet:

„Du hast eine Rolle in einem Stück zu spielen, das der Direktor bestimmt. Setzt er ein kurzes oder langes an, du musst es dir gefallen lassen. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, musst du sie dem Charakter der Rolle entsprechend spielen, und ebenso, wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Privatmann darstellen sollst. Denn das ist deine Aufgabe: Die erhaltene Rolle gut zu spielen. Die Rolle auswählen, kommt einem anderen zu.“

Und Paulus, einer der ersten großen Interpreten der christlichen Botschaft, klagt im 7. Kapitel seines Briefes an die Römer:

„… ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen des Guten finde ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“

Dennoch: Es gibt die 10 Gebote, es gibt die Bergpredigt, und in jeder zur Sprache vorgedrungenen Kultur findet man Verhaltensforderungen, deren Erfüllung als möglich vorausgesetzt werden, sollten sie nicht sinnlos sein. Selbst das vergebliche Rebellieren gegen sein Schicksal oder dessen bewusstes Annehmen enthält Spuren des freien Willens. Beherrschung durch Mächte und Unfreiheit des Willens sind zwei verschiedene Dinge. Mächte können überwunden werden, Gebundenheit kann einer Befreiung weichen. Paulus sprach nicht nur vom Elend des Böses-Tun, sondern ebenso von Erlösung. Und die Befreiung von Diktaturen ist auch in der säkularen Geschichte ein Thema geblieben.

Was gegenwärtig versucht wird, ist radikaler, ist ein absoluter Kahlschlag, der mit hirnbiologischen Argumenten menschliche Freiheit zu einer Illusion erklärt und jedem Willen einen verborgenen Zwang zuweist. Unfreiheit des Willens soll als Naturgesetz dargestellt werden. – Hierbei ist allerdings oft unklar, was unter „Willensfreiheit“ verstanden wird, und so erscheint es angebracht, als Grundlage für eine Stellungnahme zuerst über Begriffe zu sprechen:

Man unterscheidet zweckmäßigerweise zwischen Handlungs- und Willensfreiheit:

Handlungsfreiheit: Ich kann tun, was ich will
A) stets
B) manchmal

Willensfreiheit: Ich kann wollen, was ich tue
A) stets
B) manchmal

In beiden Fällen dürfte allerseits Übereinstimmung herrschen, dass Fall A) ausscheidet. Wenn ein Hochspringer Weltrekord springen will und man hängt die Latte entsprechend hoch, wird er es in der Regel nicht schaffen. Wir wollen gar Vieles, was uns verwehrt ist zu tun. Handlungsfreiheit im Sinne von A) besteht also nicht. Wohl aber existiert sie im Sinne von B) – es sei denn, man bestreitet, dass wir überhaupt etwas wollen können. Damit kommen wir aber schon zur Frage der Willensfreiheit. Was heißt überhaupt „wollen“ und wer ist es der will? Von inneren oder äußeren Zwängen, zu tun, was wir nicht wollen, war schon die Rede. Wenn etwa jemand süchtig ist und nimmt eine Droge, obwohl er von der Sucht loskommen möchte, spürt er ausdrücklich den Widerspruch zwischen Wollen und Können. Allgemein gesehen ist unser Handeln zu sicherlich mehr als 90 % reflexhaft, automatisch, durch unsere Körperfunktionen oder Gewohnheiten bestimmt. Kurz gesagt, es ist unbewusst; und so ist die Frage nach dem Wollen oder nicht Wollen keine ausschließliche Frage des Bewusstseins; sie reicht auch in das Unbewusste hinein. Dabei ist die Grenze oft fließend: Wenn ich etwa eine lange Strecke auf der Autobahn fahre, kann es sein, dass ich nicht – wie beim Fahrunterricht – bewusst über richtiges Steuern oder Gas geben nachdenke, sondern meine Gedanken irgendwohin schweifen lasse. Dann aber kommt ein Augenblick, in dem ich mir bewusst sage: Jetzt fahre ich bei der nächsten Raststätte heraus und trinke einen Kaffee. Wie ein Pilot, der von der automatischen Steuerung des Flugzeugs auf „Handsteuerung“ umschaltet, übernimmt bewusstes Wollen mein Fahrverhalten. „Willensfreiheit“ im Sinne von B) besagt, dass es dieses Umschalten gibt, dass überhaupt Handlungen existieren, die ich wollen kann, auch wenn sie immer den Charakter des Besonderen haben.

Hier nun setzt die hirnbiologische Argumentation an, die sagt: Es ist alles Automatismus. Auch meine Entscheidung, eine Tasse Kaffee zu trinken, ist dadurch zustande gekommen, dass in meinem Körper-Gehirn-Gefüge ein Schwellenwert überschritten wurde, der mich zu dieser Entscheidung veranlasste. Ein „wollendes Ich“ ist für manche Hirnbiologen nur eine Umschreibung für ein computerhaft steuerndes Gehirn, wobei dem „Computer Gehirn“ im Unterschied zu einem PC Zufallsspielräume eingeräumt sind, die er nach statistischen Gesetzen nutzt. – Natürlich weiß man, dass diese materialistische Hypothese nicht bewiesen ist und sucht deshalb nach suggestiven Beispielen, die ihre Gültigkeit nahe legen. Lassen Sie mich zwei solche Beispiele anführen:

Das erste, insbesondere von dem Bremer Neurobiologen Gerhard Roth ins Feld geführt, bezieht sich auf ein Experiment, das der Hirnchirurg Penfield schon Mitte des 20. Jahrhunderts durchführte, und zwar an einem Patienten mit schwerer Epilepsie. Man verschafft manchen derartigen Patienten Linderung, indem man die Verbindungen zwischen den beiden Hirnhälften durchtrennt. Die Schädeldecke läßt sich mit Hilfe örtlicher Betäubung abnehmen, so dass der Patient während der eigentlichen Operation bei Bewusstsein bleibt (das Gehirn selbst ist gegenüber äußeren Eingriffen schmerzunempfindlich). Penfield stimulierte dabei einmal mit einer elektrischen Sonde eine bestimmte Stelle im Gehirn, was dazu führte, dass der Patient ungewollt eine Hand hob. Auf die Frage aber, warum er die Hand gehoben habe, antwortete der Patient: „Weil ich es wollte“. Also – so Roths Argument – hat der Patient einen durch äußeren Reiz ablaufenden Vorgang als willentliche Handlung gedeutet, obwohl das definitiv nicht stimmte. Und das sei typisch für unser Handeln: Das Gehirn hat längst entschieden, ehe wir der subjektiven Illusion verfallen, etwas gewollt zu haben.

Das zweite Beispiel beruft sich auf ein Experiment des amerikanischen Hirnbiologen Benjamin Libet aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Libet ging der These des australischen Hirnforschers und Nobelpreisträgers John Eccles nach, der einen strengen Geist-Körper-Dualismus vertrat und der Meinung war, der menschliche Geist veranlasst erst nach einer getroffenen Entscheidung das Gehirn, tätig zu werden und die Ausführung einer Handlung einzuleiten. Libet hatte Zweifel, ob das stimmt. Er nutzte, um experimentell an die Frage heranzukommen, ähnlich wie Penfield, die Situation eines geöffneten Schädels bei einem Epilepsiepatienten, um festzustellen, ob ein spontaner Willensentschluss, etwa eine Hand zu heben oder einen Finger zu krümmen, der dazugehörigen Tätigkeit des Gehirns vorausgeht oder ihr nachfolgt. Das Ergebnis des Experiments war, die Hirntätigkeit geht der Willensabsicht voraus; Eccles hatte also unrecht. Und eine Anzahl von Hirnforschern, so der Direktor des Max Planck-Instituts für Hirnphysiologie in Frankfurt, Wolf Singer – neben Gerhard Roth einer der eifrigsten Verfechter der materialistischen Auffassung von Willensfreiheit – ziehen wiederum den Schluss: Freier Wille ist eine Illusion. Bioelektrische Prozesse der Nachrichtenverarbeitung im Gehirn bringen unser Handeln kausal hervor.

Den genannten Forschern ist bewusst, dass das ethische Konsequenzen hat. Singer berichtet sogar von Gesprächen, die er mit Bundesrichtern über die Notwendigkeit führte, die Strafgesetze entsprechend zu ändern, wobei er bedauert, dass sich die Bundesrichter auf derartige Gedanken nicht eingelassen haben. Um besser in einer rechtlichen und philosophischen Diskussion bestehen zu können, schlägt Singer einen neuartigen Dualismus vor, nämlich den der zwei Perspektiven, der „1. Person-Perspektive“ der Geisteswissenschaften und der „3. Person-Perspektive“ der Hirnbiologie. Subjektive und objektive Sichtweisen sind irgendwie zueinander komplementär, vielleicht könnte man auch sagen: dialektisch. Das hört sich philosophisch gut an und man kann darüber diskutieren.

Eine entscheidende Frage ist nun, ob Juristen, Philosophen oder Theologen dieser Alternative „1. Person-Perspektive“ – „3. Person-Perspektive“ auf den Leim gehen und auf diese Weise indirekt das Illusionäre alles Kulturellen, Religiösen und Ethischen anerkennen.

Jedenfalls möchte ich das nicht tun, sondern eine sehr einfache Frage stellen: Wie aussagekräftig sind die oben genannten „objektiven“ Belege für die Unfreiheit des Willens? Stimmen die Argumente der „3. Person-Perspektive“ überhaupt? Nehmen wir einmal die beiden genannten Experimente etwas genauer unter die Lupe!

Das erste war die elektrische Hirnstimulation, die zum Heben einer Hand führte, das der Patient als willentlich bezeichnete. Hierzu sei an das erinnert, was in kommunistischen Diktaturen „Hirnwäsche“ genannt wurde (und sicherlich auch heute noch mancherorts praktiziert wird). „Hirnwäsche“ besteht nicht nur darin, den Unterdrückten zu einer bestimmten Handlung oder Aussage zu veranlassen. Das ist eher Angelegenheit von Folter. Hirnwäsche will mehr, nämlich einen Menschen veranlassen, das, was er gezwungenermaßen tut oder für richtig hält, als seinem Willen gemäß zu betrachten. Menschlicher Wille ist durch psychisch-physische Gewalt manipulierbar: das nennt man „Gehirnwäsche“. Zu behaupten, die Möglichkeit von Gehirnwäsche beweise, dass der Mensch keinen freien Willen habe, wäre nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch zynisch. Was aber beinhaltet das genannte Experiment anders? Gehirnwäsche hinterlässt natürlich im Gehirn ihre Spuren. Gehirnreizung an geeigneter Stelle kann einen Ausschnitt davon realisieren. Sagt das etwas gegen Willensfreiheit? Nur dann, wenn man dem genannten unwissenschaftlichen Zynismus folgt. Das Rothsche Argument ist also unsachlich und pervers – das muss deutlich gesagt werden. Es handelt von Willensmanipulation, wenn auch nur an einem harmlosen Beispiel, nicht um Widerlegung des freien Willens.

Wie steht es mit dem Libetschen Experiment? Libet hat selbst in hohem Alter 2004 noch einmal ein Buch herausgebracht, das 2005 in deutsch unter dem Titel „Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert“ erschienen ist.

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Quelle: prof-dr-ewald.de